Sehr geehrte Damen und Herren,
heute möchte ich Ihnen von einer aufregenden Reise berichten:
Ich, Stefan Georg, stellvertretender Geschäftsbereichsleiter für die Jugend(sozial)arbeit und Ganztagsbildung bei der Diakonie Rosenheim, hatte vom 26. Mai bis 9. Juni 2024 die Gelegenheit, an einer 14-tägigen Studienreise nach Japan teilzunehmen. Unter dem Thema „Armut im Kindes- und Jugendalter“ besuchte ich gemeinsam mit einer deutschen Delegation verschiedene Einrichtungen in Tokio und in der Präfektur Fukui, um Einblicke in die dortigen Praktiken und Ansätze zu gewinnen.
Ausschreibung des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin
Die Möglichkeit zur Teilnahme an dieser Reise ergab sich durch eine Ausschreibung des „Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin“ (jdzb). In Zusammenarbeit mit der „Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.“ – einem Partner des „Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ – organisiert das Zentrum neben Reisen für Ehrenamtliche und junge Berufstätige u. a. auch den hier beschriebenen Fachkräfteaustausch.
Nach einem Bewerbungsverfahren wurden acht Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe ausgewählt, an der Reise teilzunehmen. Ziel der Reise war es, dass japanische und deutsche Fachkräfte voneinander lernen sollten, um globale Perspektiven und Lösungen auf Herausforderungen im Umgang mit Kinderarmut zu entwickeln.
Größe und Zusammensetzung der deutschen Delegation
Unsere deutsche Delegation (Foto unten) bestand aus insgesamt 16 Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, die sich auf zwei Themenschwerpunkte aufteilten: Während sich die erste Gruppe mit dem Thema „Medienbildung“ befasste und Schulen sowie Einrichtungen zu diesem Thema besuchte, widmete sich meine Gruppe Einrichtungen mit dem Fokus auf Armut im Kindes- und Jugendalter.
Die deutsche Delegation umfasste Mitarbeitende aus verschiedenen Trägerorganisationen wie den Johannitern, SOS-Kinderdorf, der AWO und – mit mir (auf dem Gruppenfoto oben in der Mitte stehend im blauen Hemd) auch der Diakonie.
Alle teilnehmenden Fachkräfte kamen aus unterschiedlichen Regionen der Bundesrepublik. Diese Diversität ermöglichte einen bereichernden Austausch untereinander und gab uns zudem vielfältige Perspektiven auf die besuchten Einrichtungen, deren Ansätze und Arbeitsweisen.
Besuchte Einrichtungen
Nach einem 13-stündigen Flug fanden wir uns bereits am Nachmittag des ersten Tages in der Vorstellungsveranstaltung der ersten Einrichtung wieder. Während unseres Aufenthalts in Japan besuchten wir sowohl freie Träger als auch staatliche Einrichtungen. Darunter waren u. a. Jugendzentren, ein Kinderheim, Kinderkantinen und eine Inobhutnahmestelle. Insgesamt haben wir zwölf Einrichtungen besucht, bei denen wir in Vorträgen und Diskussionen Konzepte kennengelernt und Erfahrungen ausgetauscht haben, um abschließend in Fragerunden Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Kinder- und Jugendarmut zu erörtern. Beim Besuch der letzten Einrichtung durften wir z. B. einen Nachmittag in einer Kinderkantine begleiten.
Das Foto oben zeigt einen Teil der Delegation aus Deutschland vor einer Kinderkantine.
Erwähnenswert ist zudem ein Tag, den wir in Gastfamilien verbracht haben, sowie ein Fachkräfteseminar zum Ende der Reise. Während des Seminars konnten wir mit der japanischen Delegation und Vertreterinnen und Vertretern des japanischen Bildungsministeriums über Herausforderungen und Lösungsansätze zum Thema „Kinderarmut“ reden.
Inhaltliche Schwerpunkte
Sowohl bei den Besuchen in den Einrichtungen als auch im Fachkräfteseminar kamen immer wieder die Konsequenzen schlechter Ernährung, das Schamgefühl, über Armut und deren Folgen zu sprechen, sowie die Einsamkeitsthematik zur Sprache.
Wir stellten im Verlauf der Reise fest, dass viele japanische Einrichtungen zur Bekämpfung von Kinderarmut ganzheitliche Ansätze verfolgen und dabei beispielsweise viel Wert auf das gemeinsame Essen guter Lebensmittel legen. So sollen die Gemeinschaft und der soziale Zusammenhalt unter den jungen Menschen gestärkt werden.
Welche große Bedeutung zudem die Bekämpfung von Einsamkeit in der japanischen Gesellschaft hat, zeigt sich auch darin, dass dafür in Japan ein eigenes Ministerium geschaffen wurde.
Ein weiterer inhaltlicher Fokus lag auf den sogenannten „Ibashos“ (frei übersetzt: Orte des Seins). Einrichtungen sollen nach diesem Konzept einen sicheren und unterstützenden Raum für junge Menschen schaffen. Gleichzeitig wird auch ein emotionaler Ort der Sicherheit damit verbunden. Die Ibashos arbeiten eng mit Schulen, lokalen Behörden und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern zusammen, um jungen Menschen ein umfassendes Unterstützungsnetzwerk zu bieten.
Nachhaltige Erfahrungen
Nachhaltig beeindruckt haben mich besonders drei Erlebnisse:
Die Bedeutung des gemeinsamen Essens: Im Arbeitsalltag meiner Einrichtungen in Deutschland ist es oft wichtig, dass alle Schülerinnen und Schüler schnell und organisiert eine warme Mahlzeit bekommen, um danach in den verschiedenen Angeboten des Standortes betreut und begleitet zu werden. Dabei vergessen wir bei uns oft, wie wichtig das gemeinsame Beisammensitzen sein kann, welche Chancen sich aus dieser gemeinsamen Zeit ergeben und wie entscheidend eine gesunde Ernährung für eine gute Entwicklung ist.
Die Aktivierung des Sozialraums: Besonders beeindruckend war der hohe Grad an Freiwilligenengagement, den wir in den Einrichtungen in Japan erlebten. Viele Programme werden von engagierten Bürgerinnen und Bürgern unterstützt, die Zeit und Ressourcen investieren, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu helfen. Diese Kultur des Ehrenamts in Japan trägt maßgeblich zur Wirksamkeit der Hilfsmaßnahmen bei.
Auch die Vernetzung der Angebote innerhalb des Sozialraums erwies sich als große Ressource. So wurden dort beispielsweise Sozialraumfonds eingerichtet, die gezielt große Spendensummen von Unternehmen akquirieren, um die Gelder anschließend unter den Akteuren des Sozialraums aufzuteilen. Auf diese Weise muss sich nicht jeder einzelne Akteur für sich um viele kleine Spenden bemühen.
Die Ibashos: Am meisten beeindruckt hat mich in Japan das Konzept der Ibashos, welches die japanische Regierung anhand diverser Gesetze fest im japanischen Hilfesystem verankert hat. So wurde eine Vielzahl solcher Orte geschaffen, um Kindern und Jugendlichen Begegnungs- und Entfaltungsstätten zu bieten.
Beeindruckend war auch für mich die Erkenntnis, dass viele externe Vorgaben in meinen deutschen Angeboten oft dazu führen, dass man (fast ausschließlich) die grundlegende äußere Sicherheit im Blick hat. Es gibt Regelungen zum Brandschutz, Lärmschutz, zur Verpflegung, Hygiene usw. Dabei kommt das Integrieren der individuellen Wünsche der Klientinnen und Klienten oft zu kurz. Zwar lautet unser diesjähriges Jahresmotto „Partizipation“ und wir schaffen über unterschiedliche Wege Gelegenheiten zur Teilhabe, aber das Konzept der Ibashos unterstreicht die Bedeutung dieses Aspekts noch einmal auf eine andere, deutlichere Art und Weise.
Fazit
Die Studienreise nach Japan war eine bereichernde Erfahrung, die mir völlig neue Blickwinkel auf den Umgang mit Kinderarmut eröffnet und neue Lösungsansätze aufgezeigt hat!
Die Erfahrungen in den besuchten Einrichtungen bestätigten eindrucksvoll, wie wichtig ein ganzheitlicher und gemeinschaftsorientierter Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe ist bzw. sein kann. Diese Erkenntnisse werde ich in meine tägliche Arbeit in Deutschland einfließen lassen.
Text: Stefan Georg
Fotos: Nauka Miura
Autor: KomMa
Kommunikation und Marketing der Diakonie Rosenheim