Woher wir kommen – eine kurze Geschichte der Diakonie Rosenheim
Woher kommt die Diakonie? Im Altgriechischen steht „diakonein“ für „bei Tisch bedienen, für etwas sorgen, im Auftrag eines Höhergestellten arbeiten“. In den ersten Urchristengemeinden gehörten Seelsorge, Verkündigung und diakonisches Handeln stets unmittelbar zusammen.
Die Unabdingbarkeit menschlicher Würde und die Sieben Werke der Barmherzigkeit (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Gefangene besuchen, Kranke pflegen, Tote bestatten) sind die Grundlage allen diakonischen Handelns.
Daraus ergibt sich das Menschenbild, das die Diakonie leitet: Verantwortlichkeit für den Nächsten, der Mensch als von Gott geliebtes Ebenbild, Befreiung des Menschen, Präsenz in der Lebenswirklichkeit der Menschen und Teilen dieser Lebenswirklichkeit, Stärken von Hoffnung und Sorgen für nachhaltige lebensdienliche und lebensförderliche gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen.
Johann Hinrich Wichern gründete 1833 das Rauhe Haus in Hamburg als Rettungshaus für verwahrloste Jugendliche als Teil seines Einsatzes für eine gerechte Gesellschaftsordnung. 1848 entstand, auf seine Anregung hin, die „Innere Mission“. Er wollte damit ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und Verelendung in den Großstädten schaffen. Wichern zählt heute zusammen mit dem fränkischen Pfarrer Wilhelm Löhe zu den Gründervätern der Diakonie in Deutschland. Wicherns Leitsatz „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert“ prägt auch heute noch die Arbeit der Diakonie.
In Rosenheim begann 1955 die diakonische Arbeit als Innere Mission des Dekanatsbezirks mit der Gemeindeschwester Hanna Müller, die allgemeine offene Sozialarbeit, Jugend-, Familien- und Altenhilfe und Erholungsfürsorge anbot.
Mit der Zeit weiteten sich die Aufgaben und Angebote aus, beschränkten sich bis 1970 aber im Wesentlichen auf die allgemeine Kirchliche Sozialarbeit. Hans-Hagen Theimer wurde 1969 erster Geschäftsführer.
1970 erfolgt die Umbenennung der Inneren Mission des Dekanats in Diakonisches Werk des Evang.-Luth. Dekanatsbezirks Rosenheim als Mitglied des Landesverbandes Diakonisches Werk Bayern. Aber erst 1974 wurde die Diakonie Rosenheim ein eigenständiger Verein. Im gleichen Jahr übernahm die Diakonie Rosenheim die ambulante Nichtsesshaften- und Straffälligenhilfe und kümmerte sich um Menschen, die vorher in Rosenheim keine Anlaufstelle gefunden hatten.
1975 zieht die Wohngemeinschaft für Haftentlassene als erste stationäre Einrichtung der Diakonie Rosenheim in das von der Kirchengemeinde Rosenheim gemietete „Landlstift“ in der Rathausstraße 25, in dem heute das Malteser Hilfswerk untergebracht ist.
In den folgenden Jahren kamen als weitere Arbeitsfelder u. a. die Kinderkleidertauschzentrale, die Suchtberatung, die Jugendberatung, die Stadtteilarbeit Endorferau und 1981 die Eröffnung der ersten stationären Jugendhilfeeinrichtung, das sozialpädagogische Jugendhaus Miesbach, hinzu.
1982 war es dann soweit. Nach mehrjähriger Planung wurde das neu erbaute Diakonische Zentrum in der Innstraße 72 in Rosenheim im Sommer bezugsfertig. Die meisten Dienststellen, einschließlich der Wohngemeinschaft, zogen in das neue Gebäude. Dazu gehörten Zivildienstleistenden-Unterkunft, Geschäftsstelle, Wohngemeinschaft für Haftentlassene, Allgemeine soziale Beratung, Mahlzeitendienst Essen auf Rädern, Suchtberatungsstelle, Beratungsstelle für Haftentlassene und Nichtsesshafte und KinderkleiderTauschzentrale.
1983 öffnete die erste Heilpädagogische Tagesstätte in Fürstätt ihre Pforten. In den folgenden sieben Jahren kamen zwei weitere Heilpädagogische Tagesstätten in Kolbermoor und Ebersberg hinzu sowie neue Jugendwohngruppen in Abersdorf und Bad Aibling.
Parallel dazu entstanden in der Königseestraße in Rosenheim Übernachtungsplätze für durchreisende Nichtsesshafte, Arbeitsangebote für arbeitslose Jugendliche und Erwachsene und viele weitere Angebote, häufig auf Basis von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Mit dem evangelischen Kinderhort in Hausham begann 1989 der Einstieg in die Kindertagesbetreuung. Hinzu kamen zunächst zwei Kindergärten in Rosenheim.
1994 verfestigte sich das Arbeitsangebot für langzeitarbeitslose Menschen mit dem Ankauf eines Trödelhofes in der Ebersberger Straße in Rosenheim. 2000 zog der Trödelhof in das Zentrum für Arbeit mit Beratungsstelle und Sozialkaufhaus in die Klepperstraße um. Das Gebäude in der Ebersberger Straße beherbergte nunmehr die Jugendwerkstatt.
Im März 1997 ging das „Haus Sebastian“ in Kiefersfelden, ein Wohnheim für Männer und Frauen mit alkoholbedingten Behinderungen, in Betrieb. Im Herbst war das Haus mit 40 Plätzen bereits voll belegt. Damit wurde durch die Suchthilfe der Diakonie Rosenheim erstmals ein lückenloses Angebot von der Beratung über ambulante Therapie, Betreutes Wohnen bis zur stationären Betreuung möglich.
Im gleichen Jahr startete die Flexible Jugendhilfe in München. In den folgenden Jahren erlebte dieser Arbeitsbereich ein rasantes Wachstum mit zahlreichen Büros der Flexiblen Jugendhilfe in großen Teilen Oberbayerns.
1998 wechselte die Geschäftsführung von Hans-Hagen Theimer zu Peter Selensky. Bereits ein Jahr später wurden ein hauptamtlicher geschäftsführender Vorstand und ein ehrenamtlicher zweiter und dritter Vorstand als Führungsebene eingesetzt.
Dank einer großen Spende konnte 2000 die „Förderstiftung Diakonie“ mit einem Grundstockvermögen (gestiftet von Dr. Irmengard Päsold) von DM 450.000 zur stabilen Finanzierung von sozialen Angeboten, v. a. zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, gegründet werden.
Dem diakonischen Auftrag (Hungrige speisen) folgend, eröffnete 2001 die Rosenheimer Tafel, die sofort großen Zuspruch fand. Darauf folgten weitere Trägerschaften für Tafeln in Kolbermoor, Bruckmühl und Wasserburg.
2003 erlebte die Schulsozialarbeit einen ersten großen Aufschwung mit Angeboten in neun Praxisklassen im Landkreis.
Im selben Jahr erhielt die Diakonie Rosenheim einen dreiköpfigen hauptamtlichen Vorstand (Christian Christ, Rolf Negele, Peter Selensky). Hintergrund war eine klare Trennung von Aufsicht (Diakonischer Rat) und operativer Arbeit durch einen hauptamtlichen Vorstand gemäß den Corporate Governance Vorgaben der Diakonie Deutschland.
In Ebersberg gelang es zum ersten Mal in Bayern, eine kommunale Körperschaft für eine Fachstelle zur Vermeidung von Obdachlosigkeit zu gewinnen. Weitere Fachstellen folgten in den nächsten Jahren in Rosenheim und Freising.
In vier Regionen der Stadt München wurden wir mit der sozialräumlichen ambulanten Erziehungshilfe betraut und festigten damit den Standort.
Mit der Gründung der Diakonischen Dienste gGmbH als ambulante Sozialstation und der Übernahme der pflegerischen Angebote vom Diakonieverein Rosenheim zum 01.02.2004 engagierte sich die Diakonie Rosenheim erstmals in größerem Umfang in der Altenhilfe.
Die Diaflora GmbH (Gärtnerei, Blumenladen und Integrationsbetrieb) nahm im Januar 2006 als erster juristisch eigenständiger Integrationsbetrieb in Kiefersfelden die Arbeit auf. Wir folgten damit unserem langjährigen Auftrag, Arbeitsplätze auf dem sog. „Dritten Arbeitsmarkt“ für Menschen zu schaffen, die wegen diverser Vermittlungshemmnisse keine Chance auf dem sog. regulären Arbeitsmarkt haben.
Ein Meilenstein war der Einstieg in den sozialen Wohnungsbau auf einem Grundstück in Kirchseeon. Ausgehend von unseren Beratungserfahrungen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit und dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum boten wir als erster Wohlfahrtsverband in Bayern Wohnungen für die unterste Einkommensschicht in eigener Trägerschaft an. Im Sommer 2009 wurden die ersten Wohnungen bezogen.
Nach dem Sozialkaufhaus in Bruckmühl eröffneten wir im Februar 2009 mit dem SoWas (Sozialkaufhaus Wasserburg) ein weiteres Sozialkaufhaus im Landkreis Rosenheim.
Aufgrund des enormen Wachstums v. a. in der Jugendhilfe kauften wir im November 2009 das ehemalige Verwaltungsgebäude der US Army in Mietraching bei Bad Aibling; dort wurde neben Rosenheim die zweite Geschäftsstelle der Diakonie Rosenheim eingerichtet. Auf diesem Gelände verwirklichten wir zudem die Idee eines Bildungscampus zusammen mit unserem Fortbildungsinstitut DWRO-consult gGmbH. Bis heute bieten wir dort eine Vielzahl von Fort- und Weiterbildungen für unsere Fachkräfte und auch von anderen Trägern an.
2011 wurde beschlossen, dass sich die Diakonie Rosenheim stärker für Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche engagieren wird. Aus unserer langjährigen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in prekären Lebenssituationen wissen wir, wie hoch der Stellenwert von Bildung ist. Deshalb wollten wir mit einem ganzheitlichen Konzept von Schule und integrierter Ganztagsbetreuung sowie von durchgängigen Klassen und Angeboten kindgerechte Bildung anbieten. Dies gelang nach vier Jahren Planung und Konzeption mit der offiziellen Einweihung des Bildungshauses Mietraching im Sommer 2015.
2015 war das Jahr der großen Herausforderung durch eine Vielzahl von neu ankommenden unbegleiteten Minderjährigen, die untergebracht, betreut und beschult werden mussten. Wir engagierten uns mit einer in kürzester Zeit aus dem Boden gestampften breiten Palette von Angeboten. Auch hier verwirklichten wir unseren christlichen Auftrag, niemanden ohne Obdach, Essen und Betreuung allein zu lassen.
Viel Zeit und Ressourcen haben wir in die Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden und dem Dekanat Rosenheim gesteckt, immer mit dem Wissen um unsere Wurzeln, die aus den Kirchengemeinden stammen. Ein Ausdruck davon sind die gemeinsamen Jahresempfänge von Dekanat und Diakonie, mit denen wir 2013 begannen. Und immer noch ist die KASA (Kirchliche allgemeine Sozialarbeit) erste Anlaufstelle für Betroffene im Dekanatsbezirk Rosenheim und ist die Bezirksstelle Bindeglied zwischen Dekanat, Evangelischen Kirchengemeinden und Diakonie.
Bei all unserem Tun sollten wir nie vergessen, woher wir kommen, und die christliche Soziallehre und ihre Gebote immer in den Fokus unseres Handelns stellen.
„Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert“ – dieser Leitsatz von Johann Hinrich Wichern soll uns auch durch die kommenden Jahre geleiten.
Peter Selensky im März 2021