Herr Veicht, Sie hatten am 1. Juli 2022 Ihr 30-jähriges Dienstjubiläum bei der Diakonie Rosenheim, für das Sie bei der Weihnachtsfeier in der Rosenheimer Inntalhalle am 8. Dezember 2022 geehrt wurden!
Zudem sind Sie als ausgebildeter Malermeister und Techniker kein klassischer Sozialpädagoge, wie es die meisten Mitarbeitenden in den Einrichtungen vor Ort bei der Diakonie Rosenheim sind.
Wie sind Sie denn damals überhaupt auf die Idee gekommen, sich in einer Jugendhilfeeinrichtung zu bewerben?
Franz Veicht: Ich hatte damals eine gut gehende eigene Firma mit sechs Mitarbeitenden, war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Dann wurde meine Frau schwer krank und ich konnte nicht mehr länger selbstständig sein. Ich habe es noch eine Zeit lang versucht, aber es ging einfach nicht. Ich musste oft rausfahren zu Kunden, auf Baustellen gehen und hatte abends noch die Büroarbeit zu erledigen – da kommt man locker auf 60 Wochenstunden und mehr. Also brauchte ich eine Tätigkeit mit geregelteren Arbeitszeiten und einer regulären 40-Stunden-Woche, damit ich berufliche und häusliche Aufgaben besser organisieren und miteinander vereinbaren konnte.
Da habe ich in der Zeitung die Stellenanzeige der Diakonie Rosenheim gesehen, die einen Arbeitsanleiter für junge Menschen suchte. Das habe ich eigentlich ganz passend gefunden, denn Lehrlinge hatte ich ja auch in meiner eigenen Firma zuvor schon ausgebildet. Und da ich der einzige Bewerber war, wurde ich auch prompt genommen (lacht). Damals war es noch nicht so einfach, Bewerber aus dem handwerklichen Bereich für die Jugendhilfearbeit zu gewinnen.
Wo lagen anfangs für Sie die größten Herausforderungen bei der Arbeit mit jungen Menschen – im Unterschied zur Arbeit in einem regulären Handwerksbetrieb?
Die größten Herausforderungen bestanden vor allem in zwei Dingen: zum einen in dem Vielfachen an Zeit, das ich investieren musste, und zum anderen in der Geduld, die ich in der Jugendwerkstatt den Lehrlingen entgegenbringen musste. Denn die Jugendlichen hier bringen ja alle viele individuelle Herausforderungen mit. Man muss am Anfang immer erstmal Vertrauen aufbauen und herausfinden, wo die Herausforderungen im Einzelnen liegen oder worin sie bestehen – und dann muss man versuchen, sie zu lösen oder zu entschärfen.
Für den Vertrauensaufbau ist gerade die praktische Arbeit ein gutes Medium: Man ist den ganzen Arbeitstag über mit den jungen Menschen zusammen und in Kontakt, da bekommt man ein ganzheitliches und authentisches Bild von den Lehrlingen – anders als in einem einzelnen Beratungsgespräch. Dort kann man sich schon mal zusammenreißen oder Dinge versprechen, die man gar nicht in der Lage ist, einzuhalten. Bei der Ausbildung hier in der Jugendwerkstatt zum Fachwerker oder Fachpraktiker zum Maler oder Schreiner geht das nicht, ohne dass man es als Betreuer und Bezugsperson der Jugendlichen mitbekommen würde.
Wie hat sich die Arbeit mit den Jugendlichen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verändert? Was war früher anders – unkomplizierter oder auch schwieriger – als heute?
Früher als Arbeitsanleiter war es für mich Standard, den gesamten Arbeitstag über mit den Lehrlingen zusammen zu sein. Heute ist das durch meine höhere Verantwortung als Bereichsleiter schwieriger geworden, weil mit dieser Rolle mehr bürokratische und administrative Aufgaben verbunden sind: das Berichtswesen, Meldungen, die gemacht werden müssen, Klausuren, Geschäftsbereichsbesprechungen. Manchmal vermisse ich das Mehr an Zeit, das ich früher mit den jungen Menschen verbringen konnte.
Einfacher geworden ist die Belegung unseres Angebots. Früher haben wir die jungen Menschen durch aktives Streetworking größtenteils selber akquiriert, heute bekommen wir sie von der Agentur für Arbeit zugewiesen.
Unser Angebot war, als ich angefangen habe, noch weitgehend unbekannt. Durch unsere Erfolge – wir konnten die Jugendlichen qualifizieren und an gute Arbeits- oder Ausbildungsstellen vermitteln – ist die Arbeitsagentur auf uns aufmerksam geworden und hat gemerkt, dass wir vernünftige Arbeit machen. Als die Zuweisungen durch die Agentur zunahmen, konnten wir die Eigenakquise zurückfahren.
Was auch stark zugenommen hat, sind diagnostizierte psychische Erkrankungen bei den Jugendlichen. Und wenn Diagnosen vorliegen, muss man darauf reagieren und damit umgehen. Daher hat die Agentur für Arbeit 2003 die Reha-Ausbildung ins Leben gerufen.
Seitdem lernen junge Menschen bei uns nicht nur, mit einer gewissen Disziplin und Regelmäßigkeit zu arbeiten, sondern wir bilden seither auch Jugendliche mit einer Lernbehinderung zum Fachwerker oder Fachpraktiker aus. Das ist zwar nur ein eher niedriger Fachausbildungsgrad, aber ungefähr die Hälfte der Jugendlichen schafft hinterher auch die reguläre Ausbildung zum Gesellen und erhält den Gesellenbrief!
Sie sind mit dem Konzept der Jugendwerkstatt ja insgesamt sehr erfolgreich!
Alle Jugendlichen, die Sie dort betreuen, schaffen die dreijährige Ausbildung zum Fachwerker bzw. zur Fachwerkerin oder zum Fachpraktiker bzw. zur Fachpraktikerin. Und wie Sie es eben schon angesprochen haben, hängen einige nach ihrer Fachpraktiker-Ausbildung auch noch ein weiteres Jahr bei Ihnen dran, um die reguläre Gesellenprüfung abzulegen. – Und das, obwohl die Mehrheit dieser jungen Menschen auf dem regulären Arbeits- und Ausbildungmarkt keine Chance gehabt hätte.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
An Engagement, ganz einfach! Man muss einfach sehr engagiert sein, hinschauen und die jungen Menschen mögen. Und man muss gern mit den jungen Menschen arbeiten, viel Empathie besitzen. Engagement und Empathie, das sind die beiden Kernstücke des Erfolgs!
Was reizt bzw. fasziniert Sie an der Arbeit mit jungen Menschen bis heute am meisten?
Die Sinnhaftigkeit! Ich sehe, dass die Arbeit nötig ist, und ich weiß, dass ich es kann. Und es macht mir ganz einfach Spaß!
Unsere Lehrlinge haben so viel Potenzial und so viele Ressourcen, da gibt es so viele Möglichkeiten, die man mit ihnen zusammen ausschöpfen kann… Ich könnte natürlich auch mit Erwachsenen arbeiten, aber mit jungen Menschen macht es mir einfach mehr Spaß. Unsere Lehrlinge sind noch so voller Hoffnung und kindlicher Neugier, das ist schon sehr erfrischend. Und es beeinflusst einen selber ja auch. Wir beeinflussen sie und sie beeinflussen uns, da besteht schon eine Wechselwirkung.
Bleiben Sie mit den jungen Menschen auch später noch in Kontakt, wenn sie bereits die Jugendwerkstatt verlassen haben?
Ja, einige kommen ganz spontan hier in der Jugendwerkstatt vorbei, wenn sie gerade in der Nähe sind. Und wenn ich ehemalige Lehrlinge in der Stadt treffe, wird natürlich auch miteinander geratscht. Dann gibt auch schon mal der ein oder andere zu, dass er es mir nicht immer leicht gemacht hat und er schon ein bisschen schwierig war (schmunzelt).
Für viele ist man eben doch auch ein Stück weit Vaterersatz oder der große Bruder gewesen, den sie nicht hatten. Die Mehrheit kommt daher auch später immer noch gern zu Besuch, weil sie sich hier während der Ausbildung angenommen gefühlt haben. Und dieses Gefühl war für die meisten jungen Menschen in der Jugendwerkstatt in ihrem bisherigen Leben nicht selbstverständlich.
Einige ziehen natürlich auch weg, da hat man dann irgendwann keinen Kontakt mehr.
Was würden Sie sich künftig in Ihrer Arbeit wünschen, wenn Sie einen Wunsch frei hätten?
Was würde Ihnen die Arbeit deutlich erleichtern?
Wieder weniger Bürokratie und dadurch mehr Zeit für die jungen Menschen.
Bereichsleiter und Werkstattmeister Franz Veicht vor einer Farbpalette (links), die von den Lehrlingen zu Übungszwecken erstellt wurde, und vor einigen Schreinerwerkzeugen (rechts) in der Jugendwerkstatt in Rosenheim.
Hintergrundinformation
Momentan werden knapp 40 Lehrlinge in der Jugendwerkstatt in Rosenheim ausgebildet. Neben den Ausbildungen zum/zur Fachwerker/-in oder Fachpraktiker/-in zum/zur Maler/-in oder Schreiner/-in bildet die Jugendwerkstatt in Kooperation mit externen Betrieben auch in weiteren Ausbildungsberufen aus. Die praktischen Lerneinheiten zum/zur Maler/-in oder Schreiner/-in finden dabei direkt in den Räumen der Jugendwerkstatt in Rosenheim statt, während die Jugendlichen für die praktischen Lerninhalte anderer Ausbildungsberufe in externen Betrieben lernen.
Da die Einrichtung nicht mit regulären Handwerksbetrieben in Konkurrenz treten darf, übernimmt sie überwiegend Arbeitsaufträge innerhalb der Diakonie Rosenheim oder bei anderen gemeinnützigen Organisationen.
Autor: KomMa
Kommunikation und Marketing der Diakonie Rosenheim